Von Streunern und Herumtreibern – Teil 1: Werde zum Entdecker einer Stadt

Als ich klein war, gab es in meiner Familie eine Regel: Bei gutem Wetter wurde man bis zum Abendessen aus dem Haus geworfen und sollte sich draußen beschäftigen. Hausverbot statt Hausarrest sozusagen. Was hat das Ganze mit einem Städte-Trip zu tun?

Unsere Nachbarschaft war wirklich alles andere als spannend. Also sind wir auf der Suche nach interessanten Orten durch´s Dorf gestreunt und haben jeden freien Platz aufgespürt.

Die Bäume auf dem winzigen verlassenen Friedhof waren ideal zum Klettern. Das Plateau des Denkmals auf dem Kirchplatz eignete sich prima zum Skaten. Und unter der Brücke am Flussufer gab es eine Art winzige Plattform, auf der man sich perfekt verstecken und unglaublich wichtige, geheime Teenager-Gespräche führen konnte. Das alles hätte ich sicher nicht gewusst, wäre ich jedes Mal einfach nur stumpf zum nächsten Spielplatz gelaufen und hätte geschaukelt, bis es Abendessen gab.

Wenn du einen Ort wirklich kennenlernen willst, solltest du die Regel meiner Familie selbst ausprobieren. Geh raus auf die Straßen und entdeck die interessanten Orte und Plätze!

Man entdeckt Orte, die nicht in den Must-See-Listen der Touristenführer stehen

Vielleicht liegt es gerade an dieser Frischluft-Regel, dass ich auch heute noch in jede Straße und jeden Hinterhof laufe, die mir interessant vorkommen. Meine Begleiter hören öfter nur ein schnelles „Lass mal hier reinschauen!“ und zack, bin ich verschwunden.

Lass dich von deiner Umgebung überraschen! Wenn dir eine Gegend gefällt, schau sie dir genauer an. Vielleicht verbirgt sich um die nächste Ecke das schönste Graffiti, im nächsten Hinterhof ein verstecktes Café oder in der nächsten Straße eine Reihe kleiner Handwerksläden, die man bestaunen kann.

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Das Café Espai Mescladis eingenistet zwischen Arkadenbögen

In Buenos Aires bin ich so auf Unmengen an Street-Art gestoßen. In Barcelona hat mich eine kleine Gasse angelacht, die eher wie eine Sackgasse aussah. Am Ende saß ich unverhofft in einem wunderschönen kleinen Café versteckt in einem Arkadengang. In Uruguay stand ich auf einmal vor einem einsamen, kleinen Antik-Trödelladen. Du bekommst ein ganz anderes Gefühl für die Stadt. Wie sie aussieht, welche Geschichte sie hat, welche Traditionen, welche Subkulturen, was für ein Lebensgefühl… Das hilft übrigens auch, wenn du einen Umzug in ein anderes Land oder eine neue Stadt planst und noch nicht so recht weißt, welches Viertel zu dir passt.

Und bevor ihr mich hier ermahnt: Ich weiß, nicht in jeder Stadt kann man einfach gedankenlos herumlaufen. Wenn du auf Nummer sicher gehen willst, informier dich vorher, in welchen Gegenden du problemlos streunen kannst. Du musst niemandem etwas beweisen! Wenn du bei einer Straße ein ungutes Bauchgefühl hast, nimm die nächste. Wenn dir die Gegend nicht ganz geheuer vorkommt, nimm dir ein Taxi zurück in entspanntere Viertel. Oder lass dir die Straßen von einem Einheimischen zeigen, der sich auskennt. Womit wir beim nächsten Punkt wären…

Man lernt spannende Menschen kennen

Ich für meinen Teil finde es superinteressant, mit den Bewohnern einer Stadt ins Gespräch zu kommen. Du kannst unglaublich viel davon lernen. Mein prägendstes Erlebnis hatte ich definitiv in Buenos Aires. Ich wollte unbedingt eine Busstrecke, die ich täglich zum Büro gefahren bin, einmal zu Fuß entlanglaufen, um zu fotografieren.

An irgendeiner Straßenkreuzung stand ich plötzlich vor einem bunt bemalten Auto, aus dessen Frontscheibe ein aus Schrott gebauter Reiter auf einem Pferd ragte. Natürlich musste ich das Ganze fotografieren. Auf einmal schmetterte mir aus irgendeiner Ecke ein „Willkommen bei den Pappsammlern von Villa Crespo!“ entgegen. Mein erster Gedanke war: „Okay, das war´s. Jetzt lande ich in irgendeinem Hinterhof und werde um meine Kamera und meine Wertsachen erleichtert.“ Ich schäme mich bis heute für diesen Gedanken, ehrlich.

Was wirklich passiert ist? Coco, der Mensch, der mich so freundlich begrüßt hatte, erzählte mir alles über die Pappsammler dieses Viertels, warum dieser „Beruf“ entstanden ist und was sie eigentlich machen. Weil es ihm wichtig ist, mit den Passanten zu reden und ihnen die Angst zu nehmen. Weil diejenigen, die nachts mit ins Gesicht gezogener Kapuze durch die Straßen laufen, einem nichts Böses wollen. Sie schämen sich, den Müll anderer Leute zu durchwühlen. Zum Schluss gab´s sogar noch ein Glas kalte Limonade, damit ich bei der Hitze nicht umkippe.

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Ich danke ihm noch heute dafür, dass er mir durch dieses Zusammentreffen meinen Kopf unbewusst einmal ordentlich zurechtgerückt hat. Und dafür, dass ich danach nachts um einiges entspannter durch die Straßen von Buenos Aires gelaufen bin. Seitdem ist es mir noch wichtiger, etwas von Fremden zu erfahren oder zu lernen. Eine Infotafel zur Geschichte irgendeiner Sehenswürdigkeit ist schön und gut. Aber viel interessanter ist es doch, was die Bewohner einer Stadt dir dazu erzählen können.

Als ich in Leipzig war, habe ich es tatsächlich geschafft, kein einziges Mal zur Nikolaikirche zu gehen. Ein sightseeing-technisches Verbrechen könnte man sagen. Wo war ich stattdessen? Ich bin durch Zufall in den Druckwerkstätten des Werk2 gelandet und habe von einer der Mitarbeiterinnen erzählt bekommen, wie es war, als das gesamte Stadtzentrum während der friedlichen Revolution von der Volkspolizei abgesperrt wurde. Was ich definitiv lehrreicher fand.

Und keine Sorge, ich verlange nicht von dir, dass du jetzt jede Person anquatschst, die dir auf der Straße begegnet. Das würde man selbst ja auch nicht wollen. Aber ich kann dir nur ans Herz legen, die unzähligen Gesprächsgelegenheiten zu nutzen, die sich dir während deiner Erkundungstour ergeben. Mit dem Kioskbesitzer, während du dir etwas zu trinken kaufst. Mit den Ladenbesitzern, während du die Regale bewunderst. Mit den Kellnern im Café… Ich bin mir sicher, du wirst auf spannende Dinge stoßen.

Man sammelt die interessanteren Geschichten

Ich habe selten euphorische Zuhörer gesehen, während jemand erzählt: „Und dann haben wir mit tausend anderen Touristen vor der Sagrada Família posiert und sind dann direkt mit dem Sightseeing-Bus zum nächsten Spot gefahren.“ Klingt jetzt irgendwie nicht so aufregend, oder?

Wie klingt sowas: „Und dann sind wir in diesen Laden gelaufen, der von außen eigentlich total unscheinbar aussah. Und im hinteren Teil hatte der Künstler sein Atelier und als ich seine Assistentin angesprochen habe, hat sie mir sogar erlaubt, mir das alles aus der Nähe anzugucken. Die Regalbretter waren bis unter die Decke vollgestellt mit Schnickschnack, das kannst du dir nicht vorstellen. Matchboxautos, Spielkarten, Spraydosen, Zollstöcke, alles voll! Manche Sachen sogar fein säuberlich sortiert in Einmachgläsern an die Decke geschraubt. Und ein ganzes Regal voller alter Kameras… das hättest du sehen müssen.“ Schon ein bisschen besser, oder?

Diese unverhofften Erlebnisse, die du sammelst, wenn du dir eine Stadt erstreunerst, wirst du so leicht nicht vergessen. Und sie danach wahrscheinlich mit leuchtenden Augen erzählen. Dafür lohnen sich die plattgelaufenen Füße. Schließlich sind wir Entdecker.

Was sind deine schönsten Streuner-Geschichten? Ich will sie hören, das sind die besten Geschichten!

7 Kommentare zu “Von Streunern und Herumtreibern – Teil 1: Werde zum Entdecker einer Stadt”

  1. Wunderbar geschrieben! Genau so isses nämlich.
    Man sollte runter von den Touristenpfaden und einfach mal einen Abstecher ins Ungewisse machen. Warum das erleben was schon Millionen andere vor uns gesehen, abfotografiert und in Reiseführer gesteckt haben?
    Ich hatte schon viele solcher Erlebnisse die du beschreibst. Am meisten beeindruckt hat mich ein Typ der auf einem Frachter im peruanischen Dschungel gearbeitet hat. 3 Tagen saßen wir schon mit unseren Sachen in Yurimaguas, einem kleinen Dorf am Rande des Dschungels fest. Da sollte unsere Tour starten: 3 Tage auf einem Frachter über den Amazonas bis nach Iquitos, der größten Stadt der Welt, die nicht auf dem Landweg erreichbar ist. Nur leider wurden wir jeden Morgen von ihm vertröstet mit „No, hoy no… mañana!“ Aha. 3 Tage lang das gleiche Spiel. Und ganz ehrlich, das Dorf war klein, und in einer halben Stunde gesehen. Am dritten Tag habe ich ihn gefragt „Sag mal, was kann man denn hier mal so machen?“ – „Na in den Dschungel gehen! Ich komm mit euch mit.“ Ich dachte erst der will mich verarschen, ja genau, in den Dschungel mit irgendwelchen fremden Typen, nee, is klar. Irgendwie hab ich’s dann doch gemacht und der Tag war einer der besten der Reise. Er hat uns zu so einer kleinen Hütte im Dschungel geführt wo ein Teil seiner Family wohnt, wir haben gekocht, die Plantage kennengelernt, haben Pirnahas geangelt und waren auf einem etwas zwiespältigen Markt wo man Affen kaufen konnte (…). All das hätte ich nie erlebt, wenn ich nicht auf ihn gehört hätte und mitgegangen wäre.
    Wir Deutschen sind einfach zu ängstlich. Wir denken jeder will was böses von uns. uns beklauen, entführen, umbringen. Aber sicherlich nichts gutes. Das jemand fremdes etwas nettes für uns tut ohne Gegenleistung kommt uns erstmal gar nicht in den Sinn. Und darum sind solche Erfahrungen so wichtig, weil sie deinen Horizont erweitern und dich verändern.
    Danke für den schönen Artikel!

    • Super schöne Geschichte, Anne, danke schön dafür! In den Norden von Peru möchte ich auch unbedingt nochmal, bin damals leider nur bis Lima gekommen vom Süden aus. Werde mich dann auf jeden Fall bei dir inspirieren lassen :) Und ja, wir sind leider einfach ein Land der Bedenkenträger und ich kann jedem nur so eine positive Erfahrung wünschen!

  2. Schöner Artikel! Ich liebe auch Reisen auf eigene Faust, man weiß nie, wo man landet, was alles Nächstes passiert oder welche Herausforderungen auf einen warten. Vor 4 Wochen bin ich von einer Charity Rallye zurückgekommen. Die Strecke ging mit einem alten Auto einmal um die Ostsee. Eine schöne Erfahrung hatte ich mit meiner Freundin in Russland gemacht. Obwohl die meisten nicht begeistert waren, haben wir uns getraut durch Russland zu fahren, denn dort ist es ja so schlimm und gefährlich … Wie immer haben wir im Auto irgendwo am Feldweg oder Straßenrand geschlafen. Als wir morgens am zusammenpacken waren, sprach uns ein Russe an (ich habe auch erst mal gedacht „was will der jetzt von uns …“). Er erzählte uns mit seinem bisschen Deutsch, das er noch konnte, dass er mal 15 Jahre in Deutschland gelebt und dort als LKW Fahrer gearbeitet hatte. Ursprünglich komme er aus Weißrussland, ist aber wegen der Arbeit mit seiner Familie in die Nähe von St. Petersburg gezogen. Wir haben ihm ein bisschen von der Rallye erzählt und dann hat er sich verabschiedet. 10 Minuten später kam er mit seinem 10 jährigen Sohn Boris wieder, der in der Schule deutsch lernt. Boris war ganz stolz, dass er mit Deutschen zwei Sätze deutsch reden konnte, dann kam noch die Ehefrau vorbei gefahren und wurde uns vorgestellt. Alle waren sehr herzlich zu uns, haben sich einfach gefreut uns zu treffen. Zum Abschied hat uns Boris ein Schälchen Erdbeeren mit den Worten „ein Gruß aus Weißrussland“ geschenkt. Das war einfach eine schöne Erfahrung.

    • Wow, tolle Tour, war sicher extrem spannend, oder? Und großartig die Begegnung! Hab in Südamerika auch immer wieder erlebt, dass Menschen mir ihre Geschichten aus/über Deutschland erzählt haben und sich einfach gefreut haben, sie mit einer ‚Einheimischen‘ zu teilen (und manche haben Städte hier besucht, in denen ich noch nicht mal war ;) ) Danke für deine Geschichte!

  3. Danke für den Artikel – musste zuerst lachen, weil die Regel „Hausverbot bei Guten Wetter“ gab es bei mir zu Hause früher auch :) Und mein Bruder und ich haben viele tolle Dinge in der Stadt entdeckt, die man zu Hause nie kennen gelernt hätte :)
    Leider hab ich das rumstreunern dann wieder vergessen und erst vor gut 2 Jahren wieder für mich entdeckt, aber jetzt find ich es wunderbar durch die Gassen zu streunern und Orte zu entdecken, die man in den Haupttouristenmeilen nicht sieht. Es ist wunderbar, was sich für Orte und Räume im inneren von Städten entwickeln und es ist toll hinter jeden Straßenecke von irgendwas überrascht zu werden, was man gerade da nicht vermuten würde! Und meist sind dort auch aufgeschlossene Menschen , die einem viel erzählen und zeigen wollen – mal ehrlich, die Bewohner welche durch die Hauptstraßen zum Job hetzen, haben für Reisende doch keine Zeit.
    Interessant fand ich es auch einmal, als ich in meiner Heimatstadt den letzten Bus verpasst hatte (eine Strecke, welche ich wöchentlich mehrfach fahre) und dann den Weg zu Fuß genommen habe – was ich alles aus dem Perspektivwechsel vom Bus zum Fußgänger entdeckt hatte. Der Raum kam mir plötzlich so fremd und neu vor, obwohl ich ihn jahrelang gefahren bin.

    Liebe Grüße und danke nochmal für den Artkel
    Svenja

    • Anscheinend haben wir die gleiche gute Erziehung genossen ;) Und ja, Perspektivwechsel sind großartig und zu Fuß gehen ist für mich die perfekte Fortbewegungsart, um neue Dinge zu entdecken. Man kann einfach sein eigenes Tempo definieren, anstatt irgendwo vorbeizurauschen. Freut mich, dass du das Streunen wieder für dich entdeckt hast!