Ghettolook im Flugzeug: Rettet die Magie des Fliegens

Über Jogginghosen muss mir keiner was erzählen. Ich wohne in Berlin, genauer gesagt in Neukölln. Wer hier erst nach 18 Uhr seine Jeans gegen eine Jogginghose tauscht, gehört zur Mode-Elite. Die meisten ziehen den Trainingsanzug hier höchstens zweimal im Monat zum Waschen aus.

Ist ja auch nicht weiter schlimm, denn das macht es am Ende des Tages ja nur leichter, positiv aufzufallen. Blöd finde ich jedoch, dass sich das Jogginghosen-Temperament mittlerweile auch in 10.000 Metern Höhe ausbreitet. Hier wünsche ich mir irgendwie nicht so gern Neuköllner Modeverhältnisse.

Warum? ganz einfach: Ich fliege sicher mehr als 20 Mal im Jahr. Trotzdem ist das Fliegen immer noch etwas Besonderes für mich. Es ist ein Moment voller Vorfreude auf die anstehende Reise, ein Ort, an welchem ich schon spannende Bekanntschaften machen dürfte, sowie ein Zeitfenster, in welchem ich mir ohne jedes schlechte Gewissen drei Hollywood-Schinken hintereinander reinziehen kann, zumindest auf längeren Strecken.

Ich denke beim Fliegen an Filmszenen aus den 70ern, wo die Passagiere noch modischer gekleidet waren als die Stewardessen. Ich denke an ein Ritual, dass für mich eine gewisse Magie hat. Es ist nicht nur ein bloßes „von A nach B“, es ist oft Anfang und Ende eines Abenteuers.

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Aber, aber… wenn der Hintern doch wehtut?

Klar, aller Reiseromantik zum Trotz: Spätestens wenn nach 5 Stunden Flugzeit langsam der Hintern schmerzt, dann rückt auch bei mir kurzzeitig die Vorfreude auf die anstehende Reise in den Hintergrund. Sitzabstände in der Economy-Klasse sind brutal eng, die Filmauswahl oft miserabel und das Essen an Bord oft vergleichbar mit einer Schulkantine. Da kommt natürlich keine Freude auf.

Aber über all diese Dinge habe ich als Reisender einfach keine Kontrolle. Ich muss sie hinnehmen. Die einzigen Dinge, über die ich eine Kontrolle habe, sind meine eigene Gedankenwelt und mein Outfit. In Bezug auf die Gedanken hilft es generell ungemein, ein positives Gemüt zu haben. Es bringt ja nichts, sich über Dinge aufzuregen, die ausserhalb meiner Kontrolle liegen.

Aber auch in Bezug auf mein Outfit habe ich einen gewissen Einfluss auf mein Wohlbefinden. Sich noch halbwegs attraktiv zu fühlen, während man wie ein Huhn in der Legebatterie sitzt, kann überraschend aufmunternd wirken.

Ich kann schon einen kleinen Funken Verständnis aufbringen, für all die Jogginghosenträger an Bord. Es ist der verzweifelte Versuch, die Qual des Langstreckenfluges ein wenig zu mildern. Aber klappt das wirklich? Ich denke nicht. Nur weil ich die weiche Jogginghose unterm Hintern habe, kriege ich doch nicht weniger schnell Beklemmungen. Wer Jeans beim längeren Sitzen nicht mag, kann außerdem auch auf eine Stoffhose ausweichen.

Okay, ein Flug ist kein Opernsaal. Aber ist er ein Späti?

Dieser Artikel ist kein Plädoyer für Modeschauen im Himmel. Ich bin kein Modetyp und ich trage auch häufig einfach das, was mir gerade aus meinem Kleiderschrank entgegenpurzelt. Auf die Idee, mich mit Sacko und Lederschuhen in ein Flugzeug zu setzen, käme ich ebenfalls nicht. Aber kleine Dinge können häufig schon einen riesigen Unterschied machen. Eine Hose, ein Hemd oder einen Pullover, der halbwegs zum Rest passt.

Jogginghosen tragen zurecht ihren Namen. Ihre einzige Legitimation, um in der Öffentlichkeit getragen zu werden, ist zum Sport. Wer sie zu anderen Anlässen trägt, orientiert sich modisch bei Cindy aus Marzahn (bei der gern mal von hinten der Mond aufgeht) oder bei Günni aus Neukölln, der für die 50 Meter zum Späti nicht extra die Hose wechseln will.

Die meisten Jogginghosenträger düsen kurz nach der Landung auf die nächste Flughafentoilette, um ihr Outfit zu wechseln. Warum eigentlich? Wenn schon, dann sollte man sein Outfit auch konsequent durchziehen und sich auch nicht genieren, dieses an der Hotelrezeption zu präsentieren. Die Angst, dort nicht ernst genommen zu werden, scheint größer, als die Überlegung, es auch im Taxi oder Bus noch ein wenig kuschelig zu haben.

Zählt nicht auch der Flugzeuginnenraum zu einem öffentlichen Ort, an welchem jeder seinen Teil dazu beitragen sollte, die Qual der langen Reise für alle möglichst erträglich zu gestalten? Man könnte ihr ja vielleicht sogar etwas Positives abgewinnen, sie ein Stück weit zelebrieren – zum Beispiel mit eben jener zuvor erwähnten Vorfreude auf die Reise oder, je nach Typ, vielleicht sogar mit dem Kennenlernen interessanter Menschen.

Rettet die Magie des Fliegens

Ich persönlich wünsche mir, dass das Fliegen etwas Besonderes bleibt. Egal, wie oft ich abhebe. Es soll nicht zu einer Art Ghetto-Busfahrt degradiert werden, auch nach 20 Flügen pro Jahr nicht. Daher mein Appell an alle Cindys und Günnis in 10.000 Meter Höhe: Macht (mir) diese Magie nicht kaputt.

Karl Lagerfeld sagte einmal: „Wer eine Jogginghose trägt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren.“ Zumindest im öffentlichen Raum gebe ich ihm hiermit vollkommen recht.

4 Kommentare zu “Ghettolook im Flugzeug: Rettet die Magie des Fliegens”

  1. Schöner Post und spricht mir, vom Kontext des Fliegens mal etwas abstrahiert, absolut aus der Seele
    Die einzige Gelegenheit, bei der ich Verständnis für diese Dinger aufbringe, ist beim Sport. Aber eine Jogginghose als Alltagskleidung?! No go…
    Ich pflege zwar auch einen etwas eigenwilligen Kleidungsstil, aber immer so, dass ich auch für spontan einlaufenden Besuch passend gekleidet bin und mich auch nicht underdressed fühlen müsste, wenn es mich unerwartet in ein Restaurant verschlägt.

  2. Mein lieber Tim, ich fühle mich in Deinem Artikel ertappt. Wann sind wir zum letzten Mal zusammen geflogen ? Schreibst Du etwa über mich ? Als ich mich mal auf der Bordtoilette umgezogen hatte, hattest Du Dir ja gerade Notizen gemacht.

    Ich kann schon verstehen, dass sich das ein oder andere Auge durch die gute alte Jogginghose belästigt oder vielleicht sogar gedemütiugt fühlt: man kann dem ja nicht entfliehen. Genau so wenig wie der Fahne des Nachbarn, der sich vor dem Flug noch kurz eine Zwiebelsuppe reingetan hat oder dem, der die Hotelkosten gespart und die letzte Nacht einfach mal bei 15 Bier auf ner Party verbracht hat, oder dem, der gut vorbereitet auf die Reise geht, und sich Filme auf seinem nicht entspiegeltem Notebook ansieht, was dem Nachbarn im Zweifel nervt oder dem, der einfach zu viel labert, oder dem, der einfach seine Schuhe auszieht, obwohl er wissen müsste, dass es nicht das erste mal wäre wo sich die Leute kurz darauf die Nase rümpfen.

    Es mag ein „öffentlicher Ort“ sein, trotzdem versucht jeder es sicht so angenehm und bequem wie möglich zu machen. Die jeweilige Art und Weise passt sicherlich nicht jedem ins Konzept aber solange der Umgang miteinander respektvoll bleibt ist jedem geholfen. Die meisten Fluggäste freuen sich über einen ruhigen Nachbarn im Flugzeug. Da ist mir der schlafende Jogger doch lieber als der eifrige Blogger, dessen Tastaturgeklimper mich rasend macht – am öffentlichen Ort.

    Karl sagte übrigens auch: „Fehler im Aussehen entstehen, weil viele das tragen, was sie meinen tragen zu müssen, und nicht das, was sie tragen möchten.“

  3. Lieber Tim. Danke für diesen Artikel. Ich hab eine Schwäche für schöne Dinge und gut angezogene Menschen. Ich stehe mehr auf Cashmir statt Fleece und Baumwoll- statt Jogginghose. Es gibt auch tolle Stretchjeans. Dass man / frau den Stil auch mitnehmen kann, werde ich bald auf meinem eigenen Blog beweisen. http://www.lookitiger.com ( under construction) . Ich freue mich sehr, Euch Stilnomaden entdeckt zu haben. Tolle Seite, bitte weiter so!